Es war wohl das beste und interessanteste Spiel der bisherigen Europameisterschaft. In einem sowohl taktisch als auch technisch anspruchsvollen Duell trennten sich Spanien und... Ungewöhnliche Systeme und einschneidende Veränderungen – das war das 1:1 zwischen Spanien und Italien

Es war wohl das beste und interessanteste Spiel der bisherigen Europameisterschaft. In einem sowohl taktisch als auch technisch anspruchsvollen Duell trennten sich Spanien und Italien im Auftaktspiel der Gruppe C 1:1. In der PGE Arena in Gdansk ging Italien durch Joker Di Natale in Führung. Nur kurze Zeit später glich Fabregas nach sehenswerter Kombination aus. Obwohl Spanien deutlich mehr Ballbesitz hatte, hatten die Iberer mit den herkömmlichen Problemen ihrer Spielphilosophie zu kämpfen und waren im taktischen Bereich dem Konkurrenten unterlegen.

Manchmal ist es schwierig der Favorit zu sein“, klagte Torschütze Fabregas. Noch schwieriger wurde es für seine Mannschaft als sich Teamchef Vicente Del Bosque dazu entschieden hat ohne echten Stürmer zu spielen. Dadurch kam zusätzlich zu fehlenden Breite auch noch erschwerend hinzu, dass sich die Spanier oft auf Zehen standen. Da auch Italien mit einer sehr ungewöhnlichen Formation agierte, ergab sich ein interessanter und nicht alltäglicher Positionskampf.

Del Bosque setzt auf 4-6-0

Die Überraschung, dass sich Spaniens Teamchef für ein System ohne klassischen Stürmer entschied, war groß. „Ich war mehr überrascht als alle anderen“, sagte Fabregas, der auf dem Papier den Mittelstürmer gab, in Wirklichkeit aber als falsche Neun agierte und entsprechend selten im Sturmzentrum zu sehen war. Es war dies zwar nur ein einziger Positionswechsel, doch die Auswirkungen waren enorm und zeigten, dass im modernen Fußball Zahlenkombinationen längst nicht mehr ausreichen um Spielphilosophien zu beschreiben. Die jeweiligen Linien werden mittlerweile wiederum in einzelnen Schichten aufgeteilt, ein Meter weiter links oder rechts, weiter vorne oder hinter, kann schon spielentscheidend sein.

Italien im Juve-System

Italiens Teamchef Cesare Prandelli stand neben der Wahl des passenden Systems auch vor dem Problem eine dafür passende Startelf zu finden. Domenico Criscito wurde nach den gegen ihn erhobenen Vorwürfen im Manipulationsskandal aus dem Kader verbannt. Damit war der Weg frei für ein 3-5-2-System, das Prandelli schon bei der Kaderzusammenstellung im Hinterkopf hatte. Die Dreierkette sollte ursprünglich das Juve-Trio Bonucci, Chiellini und Barzagli bilden, da sich aber Letzterer verletzte, sprang De Rossi als zentraler Innenverteidiger ein. Die Juve-Quote wurde aber dennoch erfüllt, denn auf der linken Mittelfeldseite begann der polyvalente Giaccherini, was insofern ungewöhnlich war als, dass der 27-Jährige bisher kein einziges Spiel auf internationaler Ebene bestritt und bei seinem Verein auch nicht unumstrittene Stammkraft ist.

 

Prandellis Mut zum Risiko wird belohnt

Es war zweifelsfrei ein riskantes Vorgehen von Prandelli so kurzfristig auf ein anderes Spielsystem zu setzen. Die ganze Qualifikation über wurde ein 4-4-2 in Rautenform praktiziert, zudem ging die Generalprobe gegen Russland gehörig in die Hose. Dazu gesellten sich mit De Rossi und Giaccherini zwei weitere potenzielle Bruchstellen, doch beide erfüllten ihre Aufgaben exzellent. De Rossi strahlte viel Sicherheit im Abwehrzentrum aus, gewann entscheidende Zweikämpfe und lief dank seiner Antizipationsstärke Bälle und Gegner gut ab. Ein Vorteil für den 28-Jährigen war zweifellos, dass er auch bei der Roma gelegentlich die Innenverteidigerposition einnimmt. Beim Aufbauspiel lässt er sich zurückfallen und sichert er immer wieder ab. Außerdem entlastete er Pirlo als Spielmacher. Während dieser vor allem die Stürmer bediente, fokussierte sich De Rossi auf die Außenspieler.

Spaniens Ausrichtung spielt Italien in die Karten

Spaniens viele Spielmacher besetzten hauptsächlich die Zentralachse und die Räume zwischen den Linien. Neben Fabregas agierte auch Außenstürmer Silva als falsche Neun und zog oft in die Mitte, einzig Iniesta drang mit Vertiaklläufen und Dribblings gefährlich vor. Dadurch fehlte neben der Breite auch die Tiefe und der Druck auf die italienische Abwehr hielt sich in Grenzen. Die Spieler waren zwar ständig in Bewegung, suchten aber kaum Schnittstellenpässe durch die Innenverteidigung, da sich auch niemand hinter dieser anbot. In der Regel bringt eine Dreierabwehr gegen Drei-Stürmer-Systeme gewissen Nachteil mit sich. Die Außenspieler stehen vor dem Problem entweder die gegnerischen Flügelspieler zu decken oder sich auf die Außenverteidiger zu konzentrieren – was hier nur phasenweise der Fall war. Zum einen drängten Silva und Iniesta häufig in die Mitte, wo sie auf das kompakte Zentrum Italiens trafen, und vor allem von Chiellini und Bonucci aggressiv attackiert wurden. Zum anderen stellten sich Balotelli und Cassano sehr hoch auf und dämmten so indirekt die Gefahr der Außenverteidiger ein. Wären sich aufgerückt hätte sich eine Zwei-gegen-Zwei-Situation zwischen den italischen Stürmern und Spaniens Innenverteidigung gebildet, wodurch diese anfällig auf Konter gewesen wäre. Dadurch hatten Maggio und Giaccherini mehr Zeit bei der Entscheidungsfindung und konnten gegebenenfalls auch die Räume hinter den aufrückenden Außenverteidigern attackieren.

Italien mit positionsgetreuen Umstellungen…

Da Prandellis Kader sehr ausgeglichen ist kam es im Verlaufe des Spiels ausschließlich zu positionsgetreuen Wechseln. Zunächst ersetzte Di Natale Balotelli, der kurz zuvor eine aussichtsreiche Möglichkeit liegen ließ, als er zunächst den Ball gegen Ramos erstklassig behauptete, dann aber zu lässig auf Casillas zutrabte. Der 34-jährige Di Natale ist das 3-5-2 schon von Udinese gewohnt und vollstreckte nach sehenswerter Pirlo-Vorarbeit. Es war dies einer der wenige Vorstöße des tiefen Spielmachers, denn als direkte Verbindungsspieler agierten eher Motta und Marchisio. Pirlo hingegen rückte meist nur beim Pressing auf. Auch die zweite Umstellung im Sturm, Giovinco für Cassano, wäre beinahe in einem Torerfolg gemündet. Der Parma-Angreifer, der marginal tiefer zwischen den Linien spielte, spielte Di Natale frei, der jedoch nicht einnetzen konnte.

… Spanien ändert Spielanlage

Nach dem 0:1 signalisierte Del Bosque sofort seine Taktik umstellen zu wollen, wechselte mit Jesus Navas einen klassischen Flügelspieler ein. Das brachte zwar mehr Breite, in die Tiefe ging allerdings weiter nichts. Und so entschloss sich der spanische Coach eine Viertelstunde vor Schluss Torres zu bringen, einen naturgemäßen Stürmer. Der Chelsea-Stürmer hatte viel mehr Zug zum Tor als Fabregas und brachte es mit seinen Vertikalläufen auch zu nennenswerten Torchancen. Dem Glodtorschützen des letzten EM-Finales machte in den entscheidenden Momenten aber seine Form einen Strich durch die Rechnung. Zuerst scheiterte er im Eins-gegen-Eins an Buffon, dann setzte er einen Heber über den Schlussmann zu hoch an. Die Idee passte aber ganz gut, Italien konnte nur mit seiner Kampfkraft und Leidenschaft entgegenhalten, die taktischen Möglichkeiten schienen ausgeschöpft. Das wirft die Frage auf warum die Iberer erst nach 75 Minuten auf diese Philosophie zurückgriffen, zumal das verkappte 4-6-0 in der Vorbereitung nicht vernünftig eingeübt werden konnte. „Haben wir es geübt, ohne echten Stürmer zu spielen? Nein, Nein. Außerdem war es ja so, dass wir, die Spieler von Barça und Bilbao, erst sehr spät zur Mannschaft gestoßen sind“, gab Fabregas nach dem Spiel zu. Zwar erwähnte er auch, dass „wir viele verschiedene taktische Optionen“ haben, allerdings sollten diese auch den Umständen entsprechend eingesetzt und richtig gewählt werden.

axl, abseits.at

 

Alexander Semeliker

@axlsem

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