Das Thema „Kießling und die deutsche Nationalmannschaft“ ist eines der am öftesten und heiß diskutierten Themen. Nahezu jeder Experte oder Prominente im Bereich Sport,... Stefan Kießling und die Nationalmannschaft (1): Das Leverkusener System

Bayer LeverkusenDas Thema „Kießling und die deutsche Nationalmannschaft“ ist eines der am öftesten und heiß diskutierten Themen. Nahezu jeder Experte oder Prominente im Bereich Sport, der in Deutschland etwas auf sich hält, hat bereits seine Meinung zu diesem Thema kundgetan. Vielen mangelt es dabei an einer stringenten Argumentation, wo konstruktiv und mit rational stichhaltigen Aspekten diskutiert wird. Manche andere haben sich aber auch näher an die Materie gewagt und mit objektiveren Analysen die Für und Wider besprochen, wie zum Beispiel Kollege Tobias Escher bei Spielverlagerung.

Aufbauend auf den grundlegenden Aspekten in Tobias‘ Beitrag (inkl. der hervorragenden Zahlen als Untermauerung) wird in diesem Beitrag zusätzlich auf einige ausgewählte taktische Aspekte eingegangen. In dieser dreiteiligen Serie konzentrieren wir uns auf die individual- und gruppentaktischen Aspekte von Kießling und seinen am öftesten genannten Konkurrenten. Zudem widmen wir uns dann der Philosophie zum Thema strategischer Ausrichtung und beenden den Artikel mit einer Aufforderung zu einer differenzierten Betrachtung komplexerer Sachverhalte.

Im ersten Teil geht es um:

Kießlings Spielweise und seine Wechselwirkungen mit dem Leverkusener System

Sollen Kießlings Fähigkeiten und ihr potenzieller Nutzen für die deutsche Nationalmannschaft analysiert werden, müssen sie natürlich im Kontext der Wechselwirkungen mit seiner Rolle im Vereinsfußball und seinen Mitspielern betrachtet werden. Dabei ist bereits klar, dass die Leverkusener mit einem etwas eigenen Spielsystem agieren, offensiv (geringer Ballbesitz, viele Kontertore, etc.) wie defensiv.

Im Leverkusener Offensivfußball übernimmt Kießling dabei eine Schlüsselrolle. Wichtig ist hierbei seine Spielweise im Pass- und Kombinationsspiel, was wohl der Hauptgrund für die bisher fehlenden Nominierungen sein dürfte. Kießling definiert sich im Offensivspiel primär durch simple Ablagen nach schnellen Pässen auf ihn. Diese Simplizität ist an sich natürlich keine negative Kritik.

In den letzten Jahren hat er sich spielerisch weiterentwickelt, kann auch schwierige Anspiele auf ihn sauber und mit gutem Timing präzise prallen lassen. Dafür stellt er sich in den Gegner, hält diesen vom Zugriff auf den Ball ab, kann diesen behaupten und muss nicht schnell in einer engen gegnerischen Struktur Pässe über längere Distanzen oder mit schwierigen Entscheidungen spielen, sondern lässt zumeist einfach zur Seite oder zurück prallen.

Dank der tieferen Ausrichtung der eigenen Mannschaft kann er das außerdem einfacher machen als es beim DFB möglich wäre, weil er mehr Raum zur Verfügung hat, den das provozierte Aufrücken und Auffächern des Gegners zur Folge hat. Gleichzeitig kommen seine Mitspieler mit hoher Dynamik aus der Tiefe, holen sich diese Ablagen ab und nutzen Kießlings saubere Ablagen, um ihre typischen schnellen Konter zu fahren.

Dafür ziehen sie nach Annahmen dieser Bälle an Kießling Richtung Tor vorbei und kombinieren dann miteinander, mit den Halbspielern aus dem Mittelfeld oder den aufrückenden Außenverteidigern in Ballnähe. Kießling klinkt sich in diesen Kombinationen zumeist erst beim Angriffsabschluss wieder ein und dient dann als Verwerter von direkt verwertbaren Pässen in den Strafraum oder von Flanken. Er kommt dann aus der Tiefe des Raumes nach vorne in die Spitze und kann dank der Struktur von Kontern auch frei zwischen einer Position im Rückraum oder nahe am Fünfmeterraum wählen. Interessanter Randaspekt: Der FC Barcelona emuliert dies durch ihre Ballzirkulation, die Staffelung im Offensivspiel und Messis Freirolle als Mittelstürmer ebenfalls mit hervorragenden Erfolgen.

Die Leverkusener kontern aber natürlich nicht nur. Sie agieren bisweilen auch über längere Zeit etwas weiter vorne und formieren sich höher. Dann bindet sich Kießling natürlich im letzten Spielfelddrittel sehr gut ein. Nicht umsonst hat er mehrere Vorlagen neben seinem Namen und ist nicht nur ein reiner Torschütze und Konterstürmer. Hierbei sei aber gesagt, dass Leverkusens Offensivspiel sich auch bei einer höheren Positionierung durch Flanken, eine hohe Zahl von Hereingaben nach vorne und über die Flügelstürmer definiert. Die beiden Flügelstürmer, insbesondere in dieser Saison, ziehen immer wieder in den Zwischenlinienraum.

Kießling orientiert sich dann vertikal nach vorne, dient als Prellbock für einfache Pässe und Ablagen, die er dafür auch hervorragend beherrscht. Er gibt dem Spiel Tiefe und kommen die Flügelstürmer nicht über ihn als Ablage zu Torschüssen, dann werden Flanken enorm fokussiert, wo Kießling als Ableger natürlich sehr nützlich ist.

Zusätzlich ist er bei diesen Angriffen oftmals der einzige abschließende Akteur im Strafraum des Gegners bei den Leverkusenern. Die anderen Spieler stehen entlang des Zwischenlinienraums positioniert, wodurch Kießling einerseits mehr fokussiert wird, andererseits auch vom Gegner nicht so stark bedrängt werden kann.

Im Verbund mit den Spielzügen der Leverkusener, die mit Dynamik aus der Tiefe nach vorne kommen und viele Räume beim Gegner dadurch öffnen, welcher dieser nicht schnell und strukturiert verschließen kann, profitiert Kießling also durchaus von der Leverkusener Ausrichtung. Dies ist allerdings keine Generalkritik oder soll seinen hervorragenden Leistungen Abbruch tun; vielmehr geht es um eine differenzierte Betrachtung, ganz nach dem Schema: „Die Mannschaft bringt die besten Fähigkeiten des Spielers zutage, der Spieler erfüllt diese Aufgaben hervorragend und ermöglicht die Effektivität dieser Spielweise.“

Kießling muss hierbei ein klares Lob ausgestellt werden. Dabei sollte dennoch betrachtet werden, dass Kießling offensiv wie defensiv eben andere Aufgaben hat als Spieler bei offensiveren, flacheren und horizontalen Ausrichtungen im Offensivspiel. Dies trifft aber nicht nur auf die Offensive zu. Auch defensiv hat Kießling andere Aufgaben und Spielweisen.

Nicht nur im Umschalten und bei Raumaufteilung wie Positionsfindung in der Offensive ist der mangelnde Referenzpunkt wegen des Spiels ohne Zehner eine gewisse Unterstützung für Kießling. Defensiv „profitiert“ davon ebenfalls. Im 4-3-3-System der Leverkusener mit ihrer tiefen Ausrichtung und der Passivität in der ersten Pressingwelle hat Kießling zum Beispiel eine eher einfache Aufgabe.

Er kann sich an vorderster Front positionieren und den Sechserraum des Gegners versperren. Dabei ist seine genaue Position relativ egal; mit den engen Flügelstürmern und den drei Sechsern dahinter sind Pässe an Kießling vorbei kaum eine Gefahr und kommen zumeist in eine kompakte Zone. Der Gegner muss darum viel über die Flügel aufbauen und kommt erst später in die Mitte, wo Kießling nicht wirklich zurückarbeiten muss. Was für Kießling spricht ist aber, dass er es oft dennoch macht.

In solchen Situationen erkennt er sehr gut, wann er kurz effektiv zurückfallen kann, um im Mittelfeld zu unterstützen, den Ball vielleicht sogar selbst zu erobern und seiner Mannschaft zu helfen. Mit seiner körperlichen Stärke, seinem sehr guten Timing und seiner Laufstärke presst er rückwärts in den eigenen Zehner- bzw. den gegnerischen Sechserraum, wodurch er teilweise fast schon spektakulär wirkende Ballgewinne verbuchen kann.

Solche Situationen gibt es beim DFB aber ebenfalls seltener. Die Laufwege sind im Pressing etwas anders aufgebaut und Kießling müsste auch hier im Bewegungsspiel mit einem Zehner im richtigen Rhythmus agieren, was weniger Linearität und Freiheit in den Bewegungen bedeutet. Gleichzeitig muss auch beachtet werden, dass Kießling oftmals mit den falschen Spielern verglichen wird.

Diesem Sachverhalt widmen wir uns im nächsten Teil.

Rene Maric, abseits.at

Rene Maric

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