„Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Das ist leichter gesagt als getan. „Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es.“. Auch... Anekdote zum Sonntag (8) – Widerstand in Blau-Gelb

Vienna„Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Das ist leichter gesagt als getan. „Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es.“. Auch so eine Weisheit, die jedermann leicht tadelnd über die Lippen springen kann. Allzu viele Menschen tummeln sich auf diesem Erdball jedoch nicht, die, wenn es wirklich darauf ankommt, bereit sind uneigennützig zu handeln um andere zu schützen. Noch weniger tun dies unter Einsatz ihres eigenen Lebens.

Ing. Curd Reinisch war so ein Mensch. Er gehörte dem elitären Zirkel der Standhaften an. Und der elitären – sich naturbedingt am Aussterben befindenden – Gruppe der Vienna-Ur-Fans. Doch da Reinisch Lebenszeit in für Österreich dunkle Tage, an denen nicht vordergründig an Fußball gedacht werden konnte, fiel, spielt sein Engagement gegen das NS-Regime die (gesamtheitlich) gesehen bedeutendere Rolle in seinem Leben.

Als sechs-, siebenjähriger Knirps beeindruckt Reinisch der Bau des nahe der elterlichen Wohnung befindlichen Stadions Hohe Warte dermaßen, so dass er fortan unheilbar infiziert mit der blau-gelben Fußballkrankheit durchs Leben wandert. Frühkindliche Prägung: Am 19. Juni 1921 sitzt der kleine Curd mit seinem Vater beim Eröffnungsspiel des damals größten und modernsten Fußballstadions Europas in der Kurve: 2:1 besiegt die Vienna den SC Hakoah und gewinnt Curd Reinisch endgültig als lebenslangen Fan. Auch der Vater des Burschen, ein Textilingenieur, lässt sich rasch vom populären Ballsport begeistern. Er wird in den 1930er-Jahren im Präsidium der Vienna aktiv und schreibt seinen Buben zum 10. Geburtstag als Mitglied ein. Noch kickt Curd aus Spaß mit Freunden und vereinslos. Erst später wird er als aktiver Juniorenspieler rekrutiert – da ist Reinisch als einziger von seinen Kumpels schon Mitglied der Blau-Gelben. Von den Schülern, über die Jugend schafft er es bis in die zweite Mannschaft des sechsfachen österreichischen Fußballmeisters. Besonders angetan hat es ihm der dreizehn Jahre ältere Friedrich „Fritz“ Gschweidl, ein spielerisch-begabter Mittelstürmer, der im Nationalteam an der Seite von Matthias Sindelar stürmt. Der „lange“ Strebersdorfer ist Trumpf der Döblinger, spielt mannschaftsdienlich, ballsicher und holt mit der Vienna fünf ihrer sechs Meistertitel sowie drei Cup-Pokale. Reinisch hat die Ehre drei Mal in der Kampfmannschaft mit dem Ausnahmekönner aufzulaufen. Doch dann brechen die bereits erwähnten dunklen Tage an.

Wien verändert sich: Nach dem Anschluss 1938 bleibt auch im Fußball kein Stein auf dem anderen. Wem es unter den jüdischen Spielern und Funktionären möglich ist, der kratzt seine Groschen zusammen und flüchtet ins Ausland. So verlassen begabte und bedeutende Menschen aus allen Tätigkeitsbereichen Österreich. Der Aderlass des First Vienna FC fällt da relativ glimpflich aus: Auf Führungsebene wandert einzig Funktionär Friedmann aus. Der legendäre Präsident Alexander „Heilala“ Neumann war bereits vor der Annexion verstorben. Doch im Gegensatz zu Vereinen wie der Austria, die zunächst verboten und später wieder zugelassen, oder der Hakoah, die als jüdischer Sportklub ganz abgeschafft wird, kann die Vienna ihre starke Mannschaft halten und wird ab 1942 drei Mal in Folge Meister.

Reinischs Freude über diese sportlichen Erfolge ist mehr als getrübt: Als vehementer Anti-Nazi macht er aus seiner Ablehnung gegenüber der Diktatur keinen Hehl. Die Eltern sind in Sorge um ihren Sohn. Schon bei der „freien“ Volksabstimmung im April 1938 riskiert Reinisch eine Verhaftung, als er provokant erst eine halbe Stunde vor Wahlschluss auftaucht. „Als die Nazis gekommen sind, habe ich gleich gespürt, dass der Krieg kommt.“, wird der Wiener später erzählen. Sein Unmut über die braune Herrschaft wächst stetig und wird zu einem so großen inneren Drang, dass dem Herrn Ingenieur nix zu „schwör“ ist um sich aktiv gegen den Krieg zu wenden. Reinisch wird Mitglied bei 05, der aus dem Großbürgertum stammenden Widerstandsgruppe. Besonders gute Kontakte pflegt er zu Luftwaffenmajor Carl Szokoll und seinem Kreis und ist dadurch auch am Juliputsch 1944, der gescheiterten Operation Walküre, beteiligt. Szokoll selbst kommt nur knapp mit dem Leben davon.

Ab 1940 „sortiert“ Reinisch Tag für Tag Karteikarten in der Sanitätsabteilung des Wehrkreises XVII. Aber nicht so, wie es im Sinne der militärischen Führung wäre. Der Döblinger erspart vielen Wiener Kickern – nicht nur Spielern „seiner“ Vienna – den Frontdienst und rettete so zahlreiche Leben. Er fälscht Atteste, erfindet Verletzungen und Krankheiten, vertauscht Akten, versteckt Notizen. Karl Decker, einen eingezogenen Vienna-Rechtsverbinder, lässt er untauglich schreiben, sodass der kerngesunde Sporthüne abrüstet und in einem Rüstungsbetrieb dienstverpflichtet wird. Wegen erfundenen „Wehwechen“ müssen auch die Rapidspieler Kasparek, Raftl und Queck nicht an die Front, auf Seiten der „Violetten“ kann Reinisch dem deutschen Internationalen Sing helfen. Der Döblinger bringt zahlreiche Spieler in deutschen oder österreichischen Verbänden unter, wo sie nebenbei kicken können. Der Luftwaffensportverein Markersdorf bringt es so zu veritablen Ehren. Das niederösterreichische Nest wird von zahlreichen Spielergrößen, wie Sesta, Merkel, Riegler, Semp und Konsorten, beehrt. Der „Instant-Klub“ verfügt so über eine starke Mannschaft und rangiert kurzfristig auf dem sechsten Tabellenplatz.

Curd Reinisch ist zwar eine der wenige Ausnahmen, umgeben von vielen Mitläufern und „Ja-Sagern“, er ist aber nicht die Einzige. Überall sitzen mutige Männer und Frauen, die Kopf und Kragen riskieren. In jedem Lazarett kennt Reinisch einen Schreiber, eine Krankenschwester oder einen Arzt, die ein Auge zudrücken. Wie Prof. Schönbauer. Der AKH-Arzt erteilt falsche Krankenmeldungen und Atteste. Nach dem Krieg ist Reinisch sogar gezwungen Schönbauers Anti-Kriegs-Position als Prozesszeuge zu bestätigen – der Mediziner war aus „formellen“ Gründen NS-Parteimitlied gewesen. Der alternde Fritz Gschweidl ist für den jungen Curd Reinisch nicht nur fußballerisches Vorbild und bester Vienna-Spieler aller Zeiten. Er bewundert auch dessen menschliche Größe. Denn auch Gschweidl wird in der braunen Saure-Gurken-Zeit zum Helden: Er lässt sich trotz zerrütteter Ehe nicht von seiner jüdischen Frau scheiden, um sie vor der Verfolgung zu schützen. Erst nach dem Krieg kommt es zur Trennung der Eheleute.

Einen Einsatz bei einem Match hat so mancher Kicker schon teuer bezahlen müssen, wie Franz Binder am eigenen Leib verspürt: Er lässt sich zum Mitspielen überreden und erzielt als „Kranker“ drei Tore beim Unentschieden „seiner“ Rapid gegen Meister Vienna. Am nächsten Tag tauscht er das grün-weiße Trikot gegen den Landser-Dress: Ab an die Front. Auch andere Spieler setzen ihre Gesundheit und ihr Leben leichtfertig aufs Spiel: 1942 stehen im Endspiel um die deutsche Meisterschaft gegen Schalke 04 gleich fünf „wehrunfähige“ Vienna-Kicker am Platz.

Doch nicht jedem kann Reinisch helfen. Rudolf Noack, ein Hamburger Stürmer, der als Luftwaffensoldat in Wien stationiert ist, lehnt aus Kameradschaftssinn das Angebot des Wieners ab. Er überlebt zwar den Krieg, geht in russischer Kriegsgefangenschaft aber an der Ruhr elendiglich zugrunde.

Neben aktiven Fußballern wenden sich auch andere Bekannte an Reinisch. So holt er die Vienna-Funktionäre Bruckner und Demel mithilfe von „Schmäh-Befunden“ (O-Ton Reinisch) nach Wien zurück. Kurioserweise eröffnet Bruckner als Vienna-Präsident nach überstandener Nazi-Diktatur selbst für kurze Zeit ein herrisches Regime auf der Hohen Warte und vertreibt so auch seinen „Retter“ Reinisch. Der Vorstand setzt Bruckner aber mittels manipuliertem Wahlergebnis wieder ab und Curd Reinisch kehrt wieder zu seinem Herzensklub zurück.

In diesen lebensgefährlichen Jahren erleben die blau-gelben Fans absurderweise die wahrscheinlich beste Vienna-Mannschaft aller Zeiten. Legendäre Spiele, wie den Cupsieg über Rapid 1929 oder das Ländermatch gegen Italien 1923, bei dem eine Tribüne wegen eines Erdrutsches zusammenbrach, hatte es zwar schon vor dem Krieg gegeben. Nun krönen sich die Blau-Gelben 1943 aber zum „Tschammer-Pokal“-Sieger (Deutscher Cup). Das Siegestor gegen den Luftwaffen-Sportverein Hamburg schießt ausgerechnet der Hamburger Noack: Jener Noack, der Reinisch‘ Angebot zur „Umsortierung“ danach ablehnt und 1947 stirbt. 1942, 1943 und 1944 stehen die Döblinger als ostmärkischer Meister auch in der – damals üblichen – Endrunde um die deutsche Meisterschaft. Der ganz große Coup bleibt aber aus – man scheitert im Endspiel, im Halb- und Viertelfinale an Schalke, Stuttgart und Dresden.

Nach Kriegsende wandert Reinisch mit dem damaligen Vienna-Sekretär Toth auf die Hohe Warte. Ein Bild der Verwüstung bietet sich ihnen: NS-Fremdarbeiter, Landser und danach russische Besatzungssoldaten hatten in den Räumlichkeiten des Klubs gehaust: Die stolzen Wimpel von tausenden Spielen waren zum Teil als Toilettenpapier missbraucht, Dressen benutzt, Unterlagen zerfleddert und Pokale gestohlen worden. Zahlreiche Bomben- und Granatentreffer hatten das Spielfeld und die Tribüne getroffen, doch Reinisch ist motiviert und will dort weitermachen, wo er aufgehört hat.

Er setzt seine Karriere fort, allerdings nicht als Spieler, denn dazu reicht sein Talent nicht. Reinisch verlegt sich auf die Funktionärsarbeit und ist Jugendleiter. Im Zuge dieser Tätigkeit entdeckt er die spätere Rapid-Legende Hans Buzek und schickt ÖFB-Generaldirektor „Gigi“ Ludwig wieder nachhause: „Er hatte halt kein Talent, ich habe ihn mir zuerst als Tormann angeschaut, dann als Feldspieler, es war sinnlos“, erzählt er schmunzelnd. Bis ins hohe Alter bleibt Reinisch im Vorstand und als Vorzeige-Fan aktiv. Die glorreichen Zeiten „seiner“ Döblinger sind da lange vorbei. „Wenn ich hinüber schaue auf die leere Arena, könnte ich jedes Mal weinen, wenn ich an all die Veranstaltungen auf der Hohen Warte denke, an den Nurmi, der da gelaufen ist, an die Speedway-Rennen, an die Boxveranstaltungen u.s.w..“, ist sein trauriges Resümee.

Im August 2006 stirbt der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eingefleischteste und vermutlich älteste Vienna-Fan mit einer für Nostalgiker unermesslich wertvollen Sammlung an handfesten und geistigen blau-gelben Devotionalien. Solange es ihm möglich war, hatte Reinisch bei Heimspielen auf der Hohen Warte mitgefiebert. Im November diesen Jahres wäre der legendäre Fan, Funktionär und wahre (!) Kriegsheld 100 Jahre alt geworden.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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