Hämisch könnte man denken, dass Andrea Pirlo wohl die richtige Länge für Fußballfans gewählt hat: Mit ihren knapp 160 Seiten – inkludiert sind einige... Buchrezension:  „Ich denke, also spiele ich“ von Andrea Pirlo

Andrea Pirlo_abseits.atHämisch könnte man denken, dass Andrea Pirlo wohl die richtige Länge für Fußballfans gewählt hat: Mit ihren knapp 160 Seiten – inkludiert sind einige Fotos und ein Vorwort von Cesare Prandelli – gehört seine Biografie zu den kürzeren Lebensgeschichten der Sportwelt. Selbst für nicht so begeisterte Leser stellt „Ich denke, also spiele ich“ eine wirklich lösbare Aufgabe dar. Genauso hat sich das Pirlo vorgestellt: Der brillante Spielmacher schreibt so cool und abgezockt wie er am Platz spielt. Auch er selbst zieht die Playstation dicken Schinken voller Zustandsbeschreibungen vor und behauptet viermal so oft virtuell Fußball gespielt zu haben, wie er tatsächlich am Platz gestanden ist. Sein liebster Gegner war einst Alessandro „Sandrino“ Nesta mit dem er jahrelang in Mailand kickte. Damals zockten sie in der Kasernierung Barça gegen Barça bis sie viereckige Augen und entzündete Daumensehnen hatten.

 „Auch ein ganz normaler Typ, kann ein Genie sein“

Sagt Cesare Prandelli über Andrea Pirlo. Als Genie bezeichnet sich der bald 37-jährige zwar nicht, jedoch hält er nicht verborgen, dass er schon in jungen Jahren sein außergewöhnliches Talent entdeckt hat. Manche mögen es Arroganz nennen, in Wahrheit spüren jedoch die meisten Menschen instinktiv wozu sie geeignet sind und wozu nicht. Die wenigsten jedoch gehen extrovertiert mit ihren Fähigkeiten um und streben klar ein Ziel an. Andrea schon. Bereits als Bub hat er seine Spielweise gefunden: Der spätere l’architetto fordert den Ball und dribbelt sich durch. Er sagt: „Für alle anderen war ein normales Spiel in Ordnung. Spielte ich aber eine normale Partie, kam das einer Niederlage gleich.“ Sein Ehrgeiz ist für ihn anfangs keine Last, das ist eher die Häme der anderen, wenn er doch einmal Fehler macht. Irgendwann – Pirlo kickt in der U-17 von Brescia – wendet sich sogar die Mannschaft gegen ihn. Er ist vierzehn Jahre alt und die Mitspieler schließen ihn während des laufenden Matches einfach aus und schenken ihm keinen Ball. Andrea dreht auf und spielt plötzlich alleine gegen alle. Später macht er sich klar, was unumstößlich ist: Er will es von nun an lockerer angehen, sein Talent als Geschenk und weniger als Bürde betrachten. Bissig aber nicht verbissen spielen. Dieses Erfolgsrezept führt in ganz nach oben: Wenn er sich an den 9. Juli 2006 in Berlin erinnert, klingt das so: „Ich habe geschlafen und danach ein bisschen Playstation gespielt.“ Aja, und abends ist er dann Weltmeister geworden.

Das Buch ist eine Reise in Pirlos Erinnerung: Ungeordnet und prägnant erzählt der Mittelfeldregisseur ohne an der Oberfläche zu bleiben. Es ist als würde er Scheinwerfer auf Punkte in seiner ausgebreiteten Gedächtnislandschaft richten. Der Lichtkegel lässt nichts ungesehen, bleibt aber nur ein Pünktchen Helligkeit – ein Stern am Nachthimmel. Pirlos Leben ist die Geschichte eines Mannes, der stolz darauf ist, sich immer von seinem Instinkt leiten zu lassen. Ob auf dem Platz oder beim Unterschreiben eines neuen Vertrages. Und – nicht zuletzt – beim Elfmeterschießen in Berlin: „Ich ziehe ihn in die Mitte, leicht nach oben.“  Der erste Treffer beim Elfmeterschießen im WM-Finale 2006 ist für Pirlo wichtiger als sein kecker Lupfer 2012 gegen England, obwohl es auch damals um alles ging. Er ist eben ein Italiener wie er im Buche steht und an diesem Sommerabend in Deutschland spürte er die Wünsche einer ganzen Nation auf seinem Rücken.

Geboren ist Andrea Pirlo in der Lombardei als Sohn einer Weinbauernfamilie. Seine Eltern geben ihm mit, dass harte Arbeit stets belohnt wird und so lebt er bis heute. Er geht immer den harten Weg, weil er weiß, dass man für Abkürzungen meist irgendwann die Rechnung präsentiert bekommt. Das blaue Nationaltrikot überzustreifen ist für ihn besser als Sex. Warum? „Besser ein Kämpfer auf dem Rasen als im Bett.“, lautet die schlichte Begründung. Kein Wunder, dass er seinen (im Buch als fix) angekündigten Rücktritt von der Squadra Azzurra bis jetzt nicht vollzogen hat. Italien ist ihm wichtiger als Real, Barcelona, Inter, Juve und Milan zusammen. Am allerwichtigsten ist es für ihn einfach am Platz zu stehen. Seine Rolle als Fußballer ist unverkennbar: „Ich hole mir den Ball, passe ihn zu einem Kameraden und der macht das Tor. Das nennt man Vorlage, ich ebne sozusagen den Weg zum Glück.“ Fast liebevoll denkt er an all seine versenkten Freistöße zurück. Schon als Kind versuchte er sich mit einem Schaumstoffball an der Kunst, die nur wenige beherrschen, später feilte er in Milanello – dem Trainingszentrum des AC Milan – mithilfe alter Videos an seiner Technik. Sein Vorbild war der ehemalige Olympique-Lyon-Spieler Juninho Pernambucano, der den Ball stets von unten nur mit drei Zehen trat, sodass er aufstieg um sich danach schnell und gefährlich ins Tor zu senken. Irgendwann hat Pirlo es drauf und sein Spiel um ein wichtiges Element ergänzt.

Usual Suspects

Der italienische Spielmacher ist kein Mann vieler Worte. Schnell wird einem klar, was er von seinem jeweiligen Gegenüber hält: Ibrahimovic – der einzige unfreundliche Schwede der Welt. Nesta – ein Bruder. Guardiola – ein Philosoph. Gattuso – das Milan-Kabinenopfer: Der Defensivspieler nimmt es gelassen, dass seine Kollegen ihn auf dem Kieker haben. Selbst als Pirlo und De Rossi ihn einmal mit dem Feuerlöscher zuspritzen oder Pirlo zweideutige SMS von seinem Handy an Sportdirektor Braida verschickt. Gattuso ist ein bunter Hund, der so abergläubisch ist, dass er während der gesamten WM in Deutschland seinen Trainingsanzug kein einziges Mal wechselt oder um eine Wette zu gewinnen, lebende Schnecken verschlingt. Conte – der Retter von Juve. Blatter – der, der den italienischen Fußball nicht mag und den Azzurri deshalb nicht einmal den WM-Pokal überreichen will. Maldini – „ein kompletter Spieler, körperlich, mental, in allem.“

Andrea weiß auch neben dem Platz, wo er hingehört. Er argumentiert gegen die Art und Weise wie mit vielen Profis umgegangen wird: „Wir gehören zu einer besonders vom Glück begünstigten Gruppe von Menschen. Doch wir haben auch unsere Würde.“ Man erfährt was er mag und vor allem was er nicht mag. Und von letzterer Sorte gibt es einiges: Spielmanipulation; Aufwärmen – das ist wie vor der nackten Bar Rafaeli weglaufen, erfährt der Leser; den Hass der Auswärtsfans – „Wer sagt uns, dass nicht irgendwann statt Ziegelsteinen Kugeln fliegen?“; Rassismus und überhaupt die mangelnde sportliche Kultur am Stiefel. Er würde gerne mehr Technik im modernen Fußball sehen, dagegen hält er Dopingproben für vernachlässigbar. Sorry, aber da lachen ja die Hühner. Besonders sein letzter Verein – Juventus Turin – soll seit den 70er-Jahren in illegale Medikamentenbehandlung involviert sein. Um der Maschinerie von Spielmanipulationen entgegen zu treten, hat er einen kreativen Vorschlag: Pirlo plädiert für positive Anreize:  Mannschaft A müsse Mannschaft C Geld zustecken, damit diese sich gegen Konkurrent B ordentlich anstrengt. Der Spieler räumt aber ein, dass Italien für diese Lösung noch nicht bereit sei. Nicht nur Italien. Auch mit der Tatsache, dass er nie den Ballon d’or gewinnen wird, hat der grimmige Bartträger seinen Frieden gemacht. Er selbst spielt lieber mit seinem Sohn draußen Fußball als sich die Verleihung im Fernsehen anzusehen. Er weiß: „Erfolge werden hinten geboren.“ Verteidiger sind für ihn die wahren Helden.

Trotzdem scheint es ihn noch zu wurmen, dass er nie außerhalb Italiens bei einem europäischen Spitzenklub gekickt hat. Nicht umsonst werden seinen Fast-Wechseln zu Real, Barcelona und Chelsea (wegen Ancelotti natürlich) einige Zeilen gewidmet. Der schreckliche Tiefpunkt seiner Karriere ist jedoch das im Elferschießen verlorenen CL-Finale gegen Liverpool 2005. Die Art und Weise, nämlich, dass die Mailänder einen 3:0-Vorsprung aus der Hand geben, macht ihm damals noch den ganzen Sommerurlaub zu schaffen. Selbst zwei Jahre danach, als die Rache an den Engländern in Athen glückt, sind die Wunden von der Schmach am Bosporus noch immer nicht vollständig verheilt.

Der zweifache Champions-League-Sieger und sechsfache italienische Meister macht keinen Hehl aus seinen Leistungen: Er genießt es, sich seinen Status erspielt zu haben. Keine ausgefallenen Frisuren, bunte Oberarme, Nachtklubfotos haben Pirlo zum Idol gemacht. Er ist ein Siegertyp, der nur wenige Momente nach dem Abpfiff schon wieder an das nächste Match denkt. Sein Privatleben hingegen bleibt verschlossen. Für die Ticks seiner Kameraden hat er nur Spott über: So macht er sich über Gilardion lustig, der zwar vom Bademantel bis zum Hemd alles in Designerausstattung besitzt, aber trotzdem ein zerschlissenes Paar Glücksschuhe überall mitschleppt. Olfaktorisch schwerer zu ertragen ist Inzaghis Ritual vor einem Spiel: „Pippo“ verrichtet kurz vor dem Anpfiff mehrmals seine Notdurft um mit einem guten und erleichterten Gefühl den Rasen betreten zu können. Für Pirlo braucht es solche Spinnereien nicht um ein Fußballprofi auf Weltniveau zu werden. Genauso wenig macht er sich aus (zu viel) Geld. Das Angebot in Katar zu spielen lehnt er ab, egal wie sehr sein Gehalt und die Bequemlichkeiten in die Höhe geschraubt werden. Ein Pirlo will nicht in den Wüstensand, der geht lieber nach New York.

Fazit: Das Buch ist wie ein Telefongespräch mit Andrea Pirlo. Definitiv genügend um ihn besser kennenzulernen, definitiv zu wenig um eine wirkliche Autobiografie zu sein. Mir persönlich hat es aber gefallen.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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