Ronny Blaschke ist ein hervorragender Sportjournalist. Ich schätze ihn als einen der besten Fußballanalytiker im deutschsprachigen Raum. Schon 2007 hat er mit „Im Schatten... Buchrezension: „Versteckspieler – Die Geschichte des schwulen Fußballers Marcus Urban“

WegweiserRonny Blaschke ist ein hervorragender Sportjournalist. Ich schätze ihn als einen der besten Fußballanalytiker im deutschsprachigen Raum. Schon 2007 hat er mit „Im Schatten des Spieles – Rassismus und Randale im Fußball“ ein Buch vorgelegt, das mich bis heute begeistert. Ein Jahr später verhalf er Marcus Urban durch die Veröffentlichung von dessen Autobiografie zu einem größeren Bekanntheitsgrad.

Ein souveräner Sachbuchautor schreibt über einen Beinahe-Profifußballer, studierten Diplom-Ingenieur und heutigen Berater. Das klingt zunächst so banal, dass selbst ein Ronny Blaschke Mühe hätte etwas Annehmbares aus diesen Grundbausteinen zu zaubern. Tatsächlich unterschied sich Marcus Urban einst nicht groß von der Mehrheit der deutschen Amateurfußballer, die auf dem Sprung in die Kampfmannschaft sind. Das Urbansche Zünglein an der Waage führte aber dazu, dass Marcus Karriere Anfang der 90er noch vor seinem ersten Profieinsatz endete. Er selbst entschied sich zum Ausstieg aus jenem Leben, das er seit frühester Kindheit kannte: Trainieren-Spielen-Regenerieren-Anspannen-Dranbleiben-Mitfiebern-Einsteigen-Auspacken-Trainingslager-Auswärtsspiel-Physiotherapie-Nachtruhe. An diese körperlichen und psychischen Unwegsamkeiten kann man sich leicht gewöhnen, schwierig ist es jedoch wenn die Angst vor Ausgrenzung und Spott einen solchen Wochenrhythmus mitbestimmt. Daran gewöhnt man sich nie. Jahrzehnte lang versteckte sich Marcus Urban. Besser gesagt: Er versteckte seine Homosexualität.

„Das weiß man immer. Von Anfang an. Man ist es einfach von Anfang an.“, antwortet er letztes Jahr im Schweizer Fernsehen auf die Frage, in welchem Alter er seine sexuellen Neigungen erstmals spüren konnte. Damals befindet sich der im August 1971 in Weimar Geborene in einer schmerzhaften Endlosschleife: „Ich war komplett alleine. Ich saß auf dieser Sportschule und merkte: Das ist komisch. Was ist mit mir los? Warum fühle ich mich so schlecht, ich habe es nicht verstanden. Am Fußball habe ich mich festgehalten, das war aber gleichzeitig das Problem. Daran drohte ich unterzugehen“ Der talentierte Jungfußballer hat Angst vor Ausgrenzung: „Schwul“ ist im Jugendgargon immer noch ein Synonym für „schwach“ oder sogar „minderwertig“. Urban fühlt sich wie „der letzte Dreck“. Dem DDR-Juniorennationalspieler fehlt es an Vertrauenspersonen, an Liebe und Anerkennung außerhalb des Platzes. Davon und eigentlich nur davon, wie ich nach der Lektüre festgestellt habe, erzählt dieses Buch.

Die Weichen für sein mickriges Selbstbewusstsein werden bei Urban früh gestellt: Er läuft noch in Windelhosen herum, da ist die Beziehung seiner Eltern auch schon am Ende. Die Mutter ist zwar tolerant und herzlich, aber auch naiv und ihrem Kind gegenüber nicht fürsorglich genug. Sie kann die Gedankenwelt ihres Sohnes nicht nachvollziehen, glaubt nur was viele Eltern damals denken beziehungsweise was auch noch heute in gewissen Kreisen gang und gäbe ist: Der Bub braucht einen Mann im Haus. Frau Urban, die als Laborantin eines Getränkekonzerns in Weimar arbeitet, lernt einen Kollegen kennen, den sie bald nach der Trennung von Marcus Vater heiratet. Zu dritt beziehen sie eine moderne Wohnung in einem typischen DDR-Plattenbau: Keine schlechten Aussichten für die Jungfamilie. Hinter der Fassade bröckelt es jedoch.

Noch bis 2003 wird Marcus Urban Marcus Schneider heißen, dann erst legt er den letzten sichtbaren Querverweis zu seinem Stiefvater ab. Die seelischen Narben, die dieser ihm zugefügt hat, bleiben aber. Immer. „Marcus speicherte die Empfindungen, legte sie tief ab.“, bringt es Blaschke auf einen einfachen Nenner und deute schon auf den ersten Seiten an, welches „Paket“ der talentierte Kicker in sein Erwachsenenleben mitziehen wird.

Klaus Schneider sieht im Sohn seiner Frau nur einen geduldeten Mitbewohner. Die Pflege und Erziehung des Kindes sind ihm lästig. Auch die Mutter ist mit ihrem neuen Ehemann überfordert und weiß nicht wohin mit ihrem Frust. Klein-Marcus sitzt zwischen zwei Stühlen. Körperlichen Missbrauch erlebt der Bub nie, die Missachtung des Stiefvaters wiegt trotzdem schwer. Paradoxerweise ist es Klaus Schneider der Marcus zum Fußball und damit zu seiner großen Leidenschaft bringt: Er nimmt ihn am Wochenende in den Sportpark Lindenberg mit. Dort kickt die BSG Motor Weimar in der zweiten ostdeutschen Liga. Marcus ist schnell begeistert, er drängt die Eltern dazu ihn bei Motors Kindermannschaft anzumelden: Endlich Abstand von Zuhause – laufen, schießen, frei sein. Auf den ersten Teamfotos ist er derjenige, der den Ball halten darf. Stolz lächelt er in die Kamera, er hat es sich verdient, denn der schmächtige Bub hat Talent und steigt rasch auf: Zunächst kommt er nur eine Altersklasse höher, dann noch eine, schließlich spielt er in der Kreisauswahl und wird letztendlich in die Bezirksauswahl einberufen. Im Juli 1984 flattert ein Brief von Rot-Weiß-Erfurt in die Moskauerstraße 31: Der Fast-Dreizehnjährige wird in der Thüringer Kaderschmiede, der Kinder- und Jugendsportschule „Fritz Noack“, aufgenommen. Marcus ist begeistert, endlich endet das unglückliche Zusammenleben mit Mutter und Stiefvater. Nach außen hin gibt sich zwar besonders Klaus Schneider gerne als stolzer Papa, der sich mit den schulischen und sportlichen Leistungen „seines“ Bubens zu rühmen pflegt. Marcus selbst hat er dafür aber nie ein Lob ausgesprochen.

Das Steigerwaldstadion wird Mitte der 80er Jahre Marcus neues Zuhause. Dort wo ostdeutsche Olympioniken trainieren, kicken auch die Buben aus dem Erfurter Nachwuchs. Er lebt sich gut ein: Der graue Alltag mit hartem Training, Schule und Internatsleben ist trotz seiner Eintönigkeit wie eine Befreiung für ihn. Am Platz läuft alles bestens: Aus Marcus wird „Schnibbel“ – sein eleganter Stil und sein Hang zum letzten Haken sind seine Markenzeichen. Er ist ein hervorragender Dribbler mit guter Übersicht, ein junger Mehmet Scholl des Ostens. Die Trainer, die der ostdeutschen Sportphilosophie verpflichtet sind, haben Mühe ihn nicht immer wieder als Sondertalent hervorzuheben. Der Weimarer spielt mit dem späteren CL-Sieger Thomas Linke im Nachwuchs und tritt gegen andere DDR-Talente wie Robert Enke und Carsten Jancker an. Dass diese später bekannte Profis werden, er dagegen seinen Traum aufgeben muss, weiß Urban damals noch nicht. Ein gutes Jahr später weiß er nur eine Sache definitiv, auch wenn er sie nicht wahrhaben möchte: Er verliebt sich zum ersten Mal. Sein Geografielehrer hat es ihm angetan. Der Auswuchs seines Vaterkomplexes? Wohl nicht. Marcus spürt genau, welche Gefühle sich in ihm regen. Es überkommt ihn so plötzlich, dass er panisch einen Entschluss fasst: Ich bin nicht schwul. Schwul sind höchstens die anderen. Weit weg. Die, die ich nicht kenne.

Noch beflügeln ihn sein Ehrgeiz und die Suche nach Anerkennung. Im Sommer ‘85 feiert Marcus seinen ersten großen Erfolg: Der Lockenkopf wird mit Erfurt überraschend DDR-Jugendmeister und kurz darauf in die Jugendnationalmannschaft einberufen. Sportlich läuft es prima, privat sieht er sich immer mehr mit Zuständen konfrontiert, die für ihn kaum ertragbar sind: Er ist fünfzehn, sechszehn Jahre alt, will von Mädchen nichts wissen und hält sein Interesse an Männern für krankhaft. Der Offensivspieler fürchtet irgendwann als schwul „ertappt“ zu werden und beginnt sich zu tarnen: Um ja nicht aufzufallen, packt er am Platz die Sense aus. Er grätscht und pöbelt, was das Zeug hält. Die Trainer freuen sich über seinen Einsatz, sein aggressives Spiel. Das komplettiert den schlaksigen Techniker, nur wenige sind bereit, ihre Knochen so zum Markt zu tragen. Doch Marcus Blick wird immer leerer und trauriger. Er wittert überall Entlarvung. Aus Angst beginnt er sich auch abseits des Rasens zu verändern. Er legt sich eine andere Körperhaltung, Gestik, Mimik zu, erfindet erste sexuelle Erlebnisse mit Mädchen und schwärmt von schönen Frauen. Nichts davon ist wahr.

Ist „Schwul sein“ wirklich nur ein Problem des Fußballs? Nein. Ein junger Schwuler kann sich Mitte der 80er nirgendwo in Europa problemlos outen. AIDS ist als „Schwulenseuche“ verschrien, die Sowjetunion verfolgt Homosexuelle bis ins Jahr 1990. Zwar streicht die DDR im Gegensatz zum großen russischen Vorbild bereits Ende der 1960er-Jahre den Paragraf 175, der Geschlechtsverkehr zwischen Männern unter Strafe gestellt hat, die ostdeutsche Gesellschaft ist aber ebenso verkrustet wie allerorts in der westlichen Welt: Homosexualität bleibt ein großes Tabu. Im Falle Urbans kommen also viele Puzzleteile zusammen, die aus ihm einen „Versteckspieler“ machen: Elternhaus, Diktatur, Umfeld, Persönlichkeit. Die Tragik, die in dieser knappen Biografie erzählt wird, liegt aber besonders darin, dass Urban mit seinem Talent, also mit jenen Fähigkeiten mit denen er der Gesellschaft am besten hätte dienen können, im Endeffekt nur einen Blumentopf gewinnt. Sein Ausstieg aus dem Fußballerleben ist unabwendbar. „Für mich war es natürlich wichtiger endlich zu mir stehen zu können.“, wird er Jahre später in einem Interview erzählen. Das klingt am Ende überzeugend, ist aber für Urban und die Fußballwelt nicht zufriedenstellend.

Blaschke lässt Sportpsychologen Martin Schweer zu Wort kommen. Der Hochschulprofessor aus Vechta ist einer der wenigen Experten für homosexuelle Leistungssportler, aber nicht nur für diese: Viele Menschen in bedeutenden Positionen melden sich bei Schweer. „Niemand hat gesagt: „Ich bin schwul und habe Angst, dass ich entdeckt werde, das zieht mich runter. Bitte helfen Sie mir.“ Die meisten Klienten sind sich nicht im Klaren darüber was sie bedrückt, sie wissen nur, dass ihre Karriere besser verlaufen könnte, wenn sie jemand durch die Grauzone lotsen würde.“, beschreibt der Psychologe die meisten Anfragen.

Auch Marcus Urban weiß als junger Mann noch immer nicht, wie er weitermachen soll. Es macht betroffen, wenn man von seinen Ablenkungsmanövern, dem unnötigen Kampf gegen die eigene Persönlichkeit liest. Mit Zwanzig steht für ihn fest: Er ist nicht so, wie er sein will. Er steht nicht auf Frauen. Das Unmögliche scheint doch möglich zu sein. Diese Erkenntnis gibt ihm paradoxerweise kurze Zeit Kraft. Urban balanciert sich aus: Er besteht, wie erwartet, glänzend sein Abiturexamen und ist auf dem Sprung in die zweite Mannschaft der Erfurter. Er hat sich durchgebissen, kaum jemand aus seinen Anfangszeiten im Internat ist noch da. Doch es ist nur die Ruhe vor dem Sturm, denn kurz vor dem Durchbruch zwingt ihn eine Knöchelverletzung zur Pause. Jetzt hat er Zeit zu grübeln und es kristallisiert sich eines heraus: Er wird es nicht mehr schaffen, er kann es gar nicht schaffen.

„Ich brannte aus, es klaffte in mir ein großer Spalt zwischen meiner Persönlichkeit und der Fußballerrolle, die ich spielte. Ich war aggressiver als die anderen, weil ich unter Druck stand. Meine Energie ging immer mehr weg.“, wird er Jahre später über diesen Zeitabschnitt sagen. Letzte Zweifel hat die Wende beiseitegeschoben. Reisefreiheit und vielfältiger Ausbildungschancen sind für Marcus eine neue Perspektive nach der verpatzten Profikarriere. Er entscheidet sich dafür Rot-Weiß und die Stadt Erfurt hinter sich zu lassen. Trotz aller Hoffnung endlich ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, ist es auch ein schwerer Abschied, denn die Träume von einer erfolgreichen Fußballerlaufbahn sind endgültig zu ende.

Blaschke erzählt nicht nur Urbans Geschichte, er lässt zwischen den einzelnen Kapiteln immer wieder Raum für Einschübe zum Thema Homosexualität und Spitzensport. Das festigt den präjudiziellen Charakter von Marcus Lebenslauf. So kommt Ex-DFB-Präsident Theo Zwanziger zu Wort und lässt Bewusstsein für den Nachholbedarf in Sachen Schwulen-Lesben-Diskriminierung durchblicken. „Die Mauer der Ignoranz bröckelt, eingestürzt ist sie noch lange nicht.“, urteilt Blaschke. Sieben verflixte Jahre nach Erscheinen dieses Buches ist Urban aber enttäuscht: Der DFB habe außer einer Broschüre an der er mitgearbeitet habe und einer Tagung in den letzten Jahren wenig Zählbares unternommen, meint er. Die salbungsvollen Worte Zwanzigers blieben nur Versprechen.

Nach acht Jahren Erfurt führt Marcus Weg ihn zunächst zurück nach Weimar in sein altes Kinderzimmer. Die Ehe Schneider, eine Ehe, die nie hätte geschlossen werden dürfen, ist schon seit fast sechs Jahren aufgelöst. Die Mutter hat einen neuen Lebensgefährten und ein zweites Kind bekommen, wieder einmal ist kein Platz für Marcus. Er schmiedet Pläne und kickt nebenbei, dort wo alles begonnen hat. Bei Motor Weimar im Sportpark Lindenberg: Endlich Fußballspielen – nur aus Spaß. Schließlich inskribiert er Stadt- und Regionalplanung an der Bauhaus-Universität seiner Heimatstadt. Der ständige Druck in einer Männerclique als „abnormal“ aufzufallen ist jetzt als anonymer Student weggefallen. Trotzdem hat es Marcus noch immer nicht geschafft sich zu öffnen. Er bleibt fremd. Spontan entschließt er sich zum Studentenaustausch nach Süditalien. In Neapel blüht er kurze Zeit auf, das Leben dort scheint viel lockerer als im kalten Deutschland zu sein: Er kickt mit Fremden auf der Gasse, tanzt die Nächte durch, feiert WG-Partys und ertappt sich bei dem Gedanken: Vielleicht wird es ja doch noch was mit dem Fußball? Als Quereinsteiger lädt ihn ein guter neapolitanischer Amateurverein zum Probetraining ein. Doch dann schlägt die Depression wieder zu: Von einer Minute auf die andere geht es ihm schlecht. Der ständige Kampf zwischen Hoffnung und Enttäuschung ist kräfteraubend. Noch immer weiß niemand, dass sich Marcus zu Männern hingezogen fühlt: Ein falsches Wort von Freunden und er ist zurück im Käfig aus Angst. Noch immer hält er seine Homosexualität für falsch. Selbst in Italien schafft er den Ausstieg aus der Spirale nicht.

Erst 1994 beschließt Urban einen Psychologen um Rat zu bieten – wieder zunächst ohne den Kern seines Problems freizulegen: Er redet stundelang über die Beziehung zu seiner Mutter, seinen schrecklichen Stiefvater, das rigide Internatsleben und die geplatzte Fußballkarriere, verliert aber kein Wort über seine Sexualität. Der Zufall führt schließlich Regie: Ein nächtlicher Schwimmbadbesuch endet im Bett des Bademeisters: Reinhard, 40 Jahre alt, zwei Meter groß, schwul und – weil‘s keiner weiß – trotzdem ein Frauenschwarm. „Das sage ich Männer nicht oft, aber ich mag dich.“, bricht er das Eis und vermag, was Urban alleine nicht geschafft hätte, denn nach dieser Liebesnacht wird sich der Ex-Kicker outen und seine erste homosexuelle Beziehung eingehen.

Zunächst passiert genau nichts: Marcus begegnet kaum negativer Resonanz, auch nicht im „verschrienen“ Männlichkeitssumpf Fußball: Der Präsident eines Kreisligavereins fragt an, ob er nicht Lust habe mitzuspielen: „Wisst ihr nicht, dass ich schwul bin?“ „Klar wissen wir das. Das ist uns aber egal, es ändert doch nichts daran, dass du ein guter Fußballer bist.“ Auch seine Mutter ist entspannt: Reinhard – Ja, den hätte sie selbst auch immer toll gefunden. Besagter Reinhard schafft es aber im Gegensatz zu Marcus nicht seine sexuelle Ausrichtung öffentlich zu machen, bald erdrückt diese einseitige Last die Beziehung und die beiden trennen sich.

Beinahe hofft der Leser, dass das Buch mit dem Outing Urbans vorbei ist. Nach all den Jahren des Verleugnens der eigenen Identität vergönnt man Urban ein stinknormales Leben in Gesundheit. Doch es ist nicht zu Ende: Die schmerzhafte Vergangenheit wiegt immer noch schwer, dazu kommen unglückliche Liebesbeziehungen und ein fehlender Berufswunsch. Marcus Urban beendet sein Studium ohne so recht zu wissen, wie es weiter gehen soll. Schließlich beginnt er Möbel zu designen und entschließt sich zu einer Therapie. Das Hin-und-Her-Pendeln zwischen hoffnungsvollem Zweckoptimismus und nervenaufreibender Persönlichkeitsverheimlichung hat ihn jede Menge Kraft gekostet. Heute hat er neben seinen zahlreichen Beschäftigungsfeldern auch noch die Rolle des Sprechers für schwule Fußball(er)fragen inne. Die Medien, auf ihrer Jagd nach Sensationsgeschichten, sprechen gern mit dem gebürtigen Ostdeutschen. Ehrensache, dass er niemanden bloßstellt.

Sein bisheriges Leben hat Urban jetzt als Diversity-Coach zu seiner Berufung gemacht: Er kennt die Fehler, die man machen kann. Er hat sie nämlich selbst begannen und will jetzt verhindern, dass andere ebenso abdriften.

Den Profifußballer Marcus Urban wird es nicht mehr geben. Die vielen Investitionen und Opfer haben sich am Ende nur deshalb nicht gelohnt, weil ein Aspekt seines Daseins außerhalb der Norm liegt und noch immer nicht vollständig als gleichberechtigtes Lebenskonzept anerkannt wird. „Die Angst liegt in der Unwissenheit, die sind nicht informiert. Viele haben keinen Kontakt mit Schwulen.“, beschreibt der heute 43-Jährige im Jahr 2010 Homophobie in Fußballteams. 2015 hat sich die Lage zu mindestens leicht entschärft, das muss auch Ronny Blaschke im Interview mit dem Standard zugeben: „Dass das ganze Stadion „Oliver Kahn ist homosexuell“ singt, das geht nicht mehr. Homophobie ruft noch nicht dieselben Reaktionen wie Rassismus hervor, aber es gleicht sich allmählich an.“ Ist es also nur eine Zeitfrage bis Homophobie so wie Faschismus in den Fußballstadien immer weiter zurückgedrängt wird? Blaschke wünscht sich dazu eine offenere Debatte: „Es wäre wichtig, wenn jemand konkret darüber sprechen würde. Nicht anonym, verschlossen und schwammig, sondern konkret und mit seinem Gesicht. Wir könnten die Diskussion auf ein neues Level heben.“ Er räumt aber gleichzeitig ein: „Aber wer sind wir, dies einem Spieler aufbürden zu wollen? Das kann man von niemandem verlangen.“ Wie auch immer es weitergeht, für den Profifußballer Marcus Urban kommt jede Hilfe zu spät. Aber vielleicht nicht für andere gute Talente, die dieses Buch lesen und sich im jungen Marcus wiederfinden.

Es ist ein gutes Buch, das keine indiskreten Blicke in anderer Leute Privatbereich ermöglicht, sondern die Dramatik einer selbstzerstörerischen Reise gegen das eigene Ich lückenlos dokumentiert. Es geht nicht nur um Fußball: Urban hätte es auch als Bauingenieur, Hürdensprinter oder Flugzeugkapitän – in dieser Zeit, in diesem Land, in dieser Familie – von Anfang an schwer gehabt. Sein Pech bestand darin in einem Sportinternat ständig unter der Lupe, niemals unbeobachtet gewesen zu sein. „Anderssein“ passte in der Gleichmacherei der ostdeutschen Leistungserziehung so wenig zusammen, wie Francesco Totti zu Lazio Rom. Mittlerweile lebt Urban in Hamburg und spielt, wenn es seine Zeit zulässt, in einer Hobbymannschaft: Mit Schwulen, mit Heteros – so wie in seiner Jugend, aber heute um einiges befreiter. Er, ein Mittelfeldspieler vom Typ eines Scholl oder Häßler, hat ein Sebastian-Deisler-Schicksal erlitten. Doch beide haben sich letztendlich geöffnet und aus den Scherben ihrer Fußballerzeit mehr als hilfreiche Ratgeber gebastelt. Für all jene, die in ähnlichen Situationen stecken. Mitmenschlichkeit ist bei ihnen nicht nur ein Wort geblieben.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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