In dieser mehrteiligen Serie wollen wir euch die gewieftesten Trainer der Fußballgeschichte und deren taktische Entwicklungen vorstellen. Während andere Trainer vielleicht mehr Erfolge feiern... Taktische Revolutionen (3) -Rappan, Herrera und der Catenaccio

In dieser mehrteiligen Serie wollen wir euch die gewieftesten Trainer der Fußballgeschichte und deren taktische Entwicklungen vorstellen. Während andere Trainer vielleicht mehr Erfolge feiern konnten, können diese von sich behaupten das Spiel mit ihren Ideen nachhaltig geprägt zu haben. Um zu verstehen, wie es zu den heute gängigen Systemen, wie dem  4-4-2 oder dem 4-2-3-1 kam, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit.

Defensive statt Offensive

Sie könnten auch als das dunkle Zeitalter der Fußballgeschichte bezeichnet werden, die 1960er Jahre. Während das vorherige Jahrzehnt ganz im Zeichen des Offensivfußballs stand, sollte sich das in den 1960er Jahre schlagartig ändern. Während zuvor die großartigen Auftritten der ungarischen und brasilianischen Nationalmannschaft sowie des fünfmaligen Gewinners des Europapokals der Landesmeister, Real Madrid, und dessen Nachfolger auf diesem Thron, Benfica Lissabon, für Furore sorgten, sollte nun erstmals in der Geschichte des Fußballs die Defensive Überhand nehmen. Während zuvor exzellente Offensivspieler wie Alfredo di Stefano, Ferenc Puskas oder auch der junge Pele die Fußballwelt in Begeisterung versetzten, begann sich Anfang der 1960er Jahre in Italien ein System zu entwickeln, das ab Mitte dieses Jahrzehnts ganz Europa beherrschen sollte. Mit Hilfe des Catenaccio dominierten fortan die beiden Mailänder Vereine, Inter und AC, das europäische Fußballgeschehen. Beide Vereine gewannen mit ihrem brillanten „Libero“, der neu erfundenen Position hinter der Abwehr, den Europapokal derLandesmeister zwischen 1963 und 1969 je zwei Mal.

Anfänge in der Schweiz

Eigentlich ist dieser Ansatz ziemlich logisch. Wenn man die schlechteren Einzelspieler zur Verfügung hat, muss man das mit einem gut funktionierenden Kollektiv wettmachen. Statt sich mit den überlegenen, gegnerischen Spielern mit offenem Visier auf einen offensiven Schlagabtausch einzulassen, sollte man sich als Außenseiter, um realistische Siegchancen zu haben, etwas anderes einfallen lassen. Und da verteidigen bekanntlich einfacher ist als anzugreifen, bestand schon ein erster Ansatz, wie das zu bewerkstelligen sei. Genau diesem Ansatz folgte Karl Rappan, der österreichische Trainer der Schweizer Nationalmannschaft, vor der Weltmeisterschaft 1938. Mit seiner Idee sollte er den Fußball bis heute – manche würden sagen im negativen – prägen.

Vor der Weltmeisterschaft 1938 galt die Schweizer Nationalmannschaft als eine der schlechtesten Europas. Trotzdem schaffte sie das beinahe Unmögliche und bezwang im Achtelfinale die Mannschaft des Deutschen Reiches, eine Zusammenstellung der besten deutschen und österreichischen Spieler. Auch gegen England, Ungarn oder Portugal gelangen Siege. Der Grund für diese Erfolge lag eindeutig in der taktischen Ausrichtung der Schweizer. Karl Rappan, seit 1937 im Amt, ließ sich im Vorfeld der Weltmeisterschaft ein neues taktisches System einfallen: den sogenannten „Schweizer Riegel“. Genau dieses Spielsystem wurde in den 1950er und 1960er Jahren von italienischen Trainern adaptiert und zum weltweit ebenso bekannten, wie gefürchteten Catenaccio weiterentwickelt.

Die Entwicklung des „Schweizer Riegels“

Anders als in den meisten west-, nord- und südeuropäischen Ländern war das von Herbert Chapman erfundene „W-M-System“ in den 1930er Jahren in Zentraleuropa noch nicht wirklich verbreitet. Das lag vor allem auch an den Triumpfen des Österreichischen „Wunderteams“, das mit der alten 2-3-5-Formation operierte und damit große Erfolge feiern konnte. So war die Ausgangslage der taktischen Überlegungen von Rappan das 2-3-5-System.

Während Chapman als ersten Schritt zur Stärkung der Defensive den zentralen Mittelfeldmann des 2-3-5-Systems  in die Innenverteidigung zog, funktionierte Rappan stattdessen die beiden Läufer, die vormals auf den Halbpositionen des Mittelfelds agierten, in die Verteidigung zurück. Sie hatten fortan die Aufgabe, als Außenverteidiger die gegnerischen Flügelstürmer zu stoppen. Folgerichtig blieben die beiden im 2-3-5-System ohnehin vorhandenen Verteidiger im Zentrum der Abwehr. Zusätzlich beorderte Rappan seinen zentralen Mittelfeldmann weiter nach hinten, damit dieser vor der Abwehr absichern kann. Im heutigen Fußball-Jargon würde man dessen Rolle wahrscheinlich als typischen „Sechser“ bezeichnen. Ein defensiver Mittelfeldspieler, also, der hauptsächlich für das Zerstören der gegnerischen Angriffe verantwortlich ist.

Der erste Libero

Der eigentliche taktische Clou von Rappan war aber die Staffelung der Abwehrspieler. Die fünf Akteure die für die Defensive verantwortlich waren spielten nämlich keinesfalls auf einer Höhe. Stattdessen beorderte Rappan einen seiner beiden Innenverteidiger hinter den anderen, um Gegner, die durch die ersten beiden Reihen durchgebrochen waren, noch aufhalten zu können. Die Position des „Liberos“, des freien Spielers hinter der Abwehr, war geschaffen. Gemeinsam mit dem defensiven Mittelfeldspieler agierte die Verteidigung so in einer 1-3-1-Formation. Während die drei richtigen Verteidiger immer auf einer Linie spielten, schoben sich der Mann davor und der dahinter immer wie ein Riegel von links nach rechts, je nachdem von welcher Seite der gegnerische Angriff kam. Daher auch der Name „Schweizer Riegel“.

Festhalten lässt sich noch, dass zu diesem Zeitpunkt die einzige Aufgabe des Liberos das Zerstören des gegnerischen Spiels war. Anders als in unserer heutigen Wahrnehmung, die wohl durch offensive Sturmläufe und der technischen Raffinesse eines Franz Beckenbauer, der weithin als Prototyp eines Liberos gilt, geprägt ist, hatte dieser in Rappans System keinerlei offensive Aufgaben.

Die offensiven Aufgaben hatten beim „Schweizer-Riegel“, ähnlich wie beim „W-M-System“, zwei ins Mittelfeld zurückbeorderte Angreifer und eine Dreiersturmreihe zu verrichten. Erstere sollten Letztere mit Pässen in die Breite, auf die beiden Außenstürmer, oder in die Tiefe, auf den Mittelstürmer, in Szene setzten. Da dieses System so erfolgreich funktionierte, praktizierte Rappan es später auch bei seinen Stationen als Vereinstrainer. Mit dem Grasshopper Club Zürich und dem Servette FC Genf gewann er insgesamt sechs Schweizer Meistertitel. Diese Erfolge weckten natürlich europaweites Interesse an seinem neuen System. Besonders die italienischen Trainer zeigten sich davon begeistert.

Italien freundet sich mit der Defensive an

Anfang der 1950er Jahre hielt das neue Spielsystem in Italien Einzug. Wer es hier nun wirklich erstmals anwendete, darüber herrscht bis heute Unklarheit,da genau dies mehrere Trainer von sich behaupten. Die wohl wahrscheinlichste Variante ist, dass Nereo Rocco als erster Trainer der Serie A seine Mannschaften mit dem „Schweizer-Riegel“ agieren ließ. Nachdem er mit diesem Defensivsystem mit den beiden Provinzklubs US Triestina und AC Padua beachtliche Erfolge feiern konnte, wechselte Rocco 1961 zum AC Mailand. Fast zeitgleich, 1960, unterschrieb der argentinische Trainer Helenio Herrera einen Vertrag beim Stadtrivalen des AC, bei Inter Mailand. Angeführt von ihren beiden genialen Liberos, Armando Picchi bei Inter und Cesare Maldini beim AC, sollten die Teams der beiden Trainer im Laufe der 1960er Jahre riesige Erfolge feiern, je zwei Mal den Europapokal der Landesmeister erringen. Noch mehr als Rocco sorgte Herrera in dieser Zeit dafür, dass der „Schweizer-Riegel“ immer weiter perfektioniert wurde, bis er sich in den Catenaccio verwandelt hat, wie er bis heute angewendet wird.

„La Grande Inter“ und die Geburt des Catenaccio

Als Urvater des Catenaccio (das italienische Wort „Catena“ heißt so viel wie „Riegel“) gilt gemeinhin Helenio Herrera. Während seiner achtjährigen Tätigkeit bei Inter Mailand konnte er mithilfe des neuen Systems insgesamt drei Meistertitel und 1964 und 1965 zwei Siege im Europapokal der Landesmeister feiern. Während viele seiner sonstigen Methoden äußerst fragwürdig sind – so gibt es Gerüchte, er soll Spieler zur Schauspielerei veranlasst haben, an Bestechungen beteiligt gewesen sein und als Disziplinfanatiker seine Spieler beinahe wie Sklaven behandelt haben – so steht sein taktisches Verständnis außer Frage. Mit der Entwicklung des Catenaccio prägte er den Fußball nachhaltig.

Während es beim „Schweizer-Riegel“ eigentlich das einzige Ziel war, Tore zu verhindern, hatte Herrera mit seinem ursprünglichen Catenaccio aber auch eine genaue Vorstellung von einem Offensivspiel, genauer gesagt einem Konterspiel. Da sich seine Mannschaft bei gegnerischem Ballbesitz sehr weit zurückzog, entstanden hinter dem gegnerischen Verteidigungsblock riesige freie Räume. Nach Ballgewinn sollte die gegnerische Defensive mit blitzartigen Angriffen förmlich überrannt werden. Ähnlich wie bei Chapmans „W-M-System“ wurde von späteren Generationen aber oft nur der defensive Teil übernommen.

Der taktische Clou von Herrera war, dass er von den fünf defensiven Spielern des „Schweizer-Riegels“, die in eben jenem Spielsystem in einer 1-3-1-Formation agierten, die mittleren drei einfach nach links verschob. So entstand im Abwehrzentrum eine Raute mit vier reinen Defensivspielern, an denen es beinahe kein Vorbeikommen gab. Angeführt wurde dieses Quartett beim Inter Mailand der 1960er Jahre, auch als „La Grande Inter“ bekannt, vom Libero Armando Picchi. Auf der linken Seite wurde die Position eines stürmenden Außenverteidigers kreiert, die Giacinto Facchetti bekleidete. Dieser nominelle Verteidiger sorgte mit seinen Flankenläufen für erhebliche Torgefahr. So erzielte Facchetti in seiner Zeit bei Inter insgesamt 59 Tore. Sein Pendant auf der rechten Seite agierte dagegen etwas offensiver, wird also nicht mehr als Verteidiger geführt – die Formation war also asymmetrisch.

Eine weitere Änderung im Vergleich zum „Schweizer Riegel“ war auch die Anzahl an Stürmern. Während Rappan noch mit drei Angreifern spielen ließ, beorderte Herrera zwei davon zurück ins Mittelfeld. Hinter der einzigen Spitze agierte also ein vierköpfiges Mittelfeld, das aber bei jedem gegnerischen Angriff mitverteidigen musste – was für diese Zeit keine Normalität war. Für den Gegner gab es jetzt beinahe kein Durchkommen mehr: Waren erst einmal die vier tiefstehenden Mittelfeldspieler überwunden, warteten noch vier Verteidiger. Als letzte Absicherung stand dahinter der Libero bereit. Herrera gab dem Fußball ein neues Ziel. Dieses hieß nicht mehr Tore zu erzielen, sondern welche zu verhindern.

Nino Duit, abseits.at

Nino Duit

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