Nicht nur in der Defensive, sondern auch offensiv konnten einige Weiterentwicklungen auf Nationalmannschaftsebene beobachtet werden. Wie bereits angemerkt sind es oftmals sehr simple Veränderungen,... Taktiktrends zur Europameisterschaft (2) – Offensive

Nicht nur in der Defensive, sondern auch offensiv konnten einige Weiterentwicklungen auf Nationalmannschaftsebene beobachtet werden. Wie bereits angemerkt sind es oftmals sehr simple Veränderungen, da es den Mannschaften schwer fällt, bei nur geringer Trainingszeit Automatismen zu entwickeln. Als krasser Gegensatz dazu stehen beispielsweise die Spanier und die Deutschen, welche aber vom großen Bayern- beziehungsweise Barcelona-Kern und einer von oben organisierten Spielphilosophie profitieren. Bei Deutschland kommt hinzu, dass sie seit nunmehr sechs Jahren den gleichen Trainer besitzen – international ist das eine unübliche Leistung. Stattdessen konzentrieren sich die Mannschaften auf einfache Mechanismen im Offensivspiel, welche sich auch auf die Formation auswirken.

Wird das 4-2-3-1 wieder Geschichte?

In den vergangenen Jahren hat sich – insbesondere beim der WM 2010 rückte dies in den medialen Fokus – das 4-2-3-1 zum am öftesten genutzten System entwickelt. Der Trend geht aber langsam wieder zurück. Statt einer Doppelsechs mit einem Spielgestalter oder einem hängenden Stürmer davor, agieren viele Teams immer mehr mit einem weiteren Achter oder einem defensivorientierten Offensivspieler hinter dem Mittelstürmer. Bei dem Turnier von 2010 wurden über 40% aller Aufstellungen vom 4-2-3-1 beeinflusst und waren Variationen davon. Bei der Europameisterschaft sind es knapp über ein Drittel, am auffälligsten ist jedoch die Zunahme bei der 4-3-3-Formation.

Bei der letzten WM machte es nur ein Siebtel von allen Formationen aus, in diesem Jahr ist es schon ein Fünftel. Das 4-4-2 im Verbund mit dem 4-4-1-1 hat sich jedoch kaum verändert – letztere Variante wird alleine schon wegen der höheren Anzahl an Spielertypen öfter genutzt, im Prinzip machen diese beiden ähnlichen Formationen einen ähnlichen Prozentsatz wie vor zwei Jahren aus. Hingegen hat sich die Anzahl der benutzten Rauten und der 4-1-4-1-Systeme fast verdoppelt, es sind nun 6%. Diese Veränderungen der groben Systeme zeigen sich auch in den Veränderungen auf dem Platz.

Das Aussterben der Spezialisten: weniger Doppelsechsen, (noch) weniger Zehner

Die leichte Abkehr vom 4-2-3-1, sowie die veränderte Aufstellung der Spielertypen in diesem System sorgen für eine schwerer erkennbare Aufteilung der Verantwortungen. Shirokov bei den Russen oder Karagounis bei den Griechen in ihrer dritten Partie sind eher defensive Spielertypen und treten als Achter auf – was das vermeintliche 4-2-3-1-System mehr zu einem 4-1-4-1 mit einer festen Absicherung und einer Zweier-Aufteilung davor macht. Ebenso bei den Tschechen mit Rosicky, der mit Jiracek und Plasil Pärchen bildete – anstatt letzterer mit dem defensiveren Hübschman, der ein gelernter Verteidiger ist. Somit wurde selten mit einer Doppelsechs gespielt, sondern entweder mit einem defensiven und offensiven Achter vor einer einzelnen Sechs oder gar einer gänzlich defensiv ausgerichteten Zentrale vor einem rein defensiven Spieler. Von einem 4-1-4-1 oder 4-3-3 entschied sie sich nur durch die Raumaufteilung beim Offensivspiel.

Damit verbunden ist auch der Niedergang der Spielgestalter im zentraloffensiven Bereich. Stattdessen scheint es, dass die box-to-box-midfielder zurückkehren. Jene Spieler, die einen größeren Bereich bearbeiten und dadurch Torgefahr entfachen, die Defensive entlasten ohne bei der defensiven Grundformation hinten zu fehlen. Sie werden wohl langfristig auch eine Antwort auf passive Pressingvarianten werden, wie beispielsweise die Spielweisen von Iniesta und Modric zeigen – wenn der Gegner die Passoptionen zustellt, dann agiert er meist passiv. Spieler wie diese beiden können dann dank ihrer Dribbelstärke Raum überbrücken und einen ihrer abgedeckten Mitspieler von der Deckung befreien. Wenn sie sich durchsetzen, dann schaffen sie sogar eigenhändig Überzahlsituationen und können weite Deckungen auseinandernehmen. Aufgrund des hohen Risikos eines Ballverlustes gibt es solche Aktionen aktuell jedoch mehr auf den Seiten, wo zurzeit die meisten Angriffe stattfinden.

Das Flügelspiel als geringeres offensives Risiko

Da Ballverluste im Zentrum einerseits aufgrund der höheren Raumverdichtung wahrscheinlicher, andererseits aufgrund der breiten Stellung beim Aufrücken gefährlicher sind, konzentrieren sich zahlreiche Mannschaften auf das Flügelspiel. Bei Portugal ist es aufgrund ihrer Starspieler auf diesen Positionen die logische Konsequenz, doch Mannschaften wie Russland hätten das Spielermaterial für andere Formationen und Angriffsweisen. Stattdessen fokussiert sich die Spielweise auf die Außenbahnen, weil Gegenangriffe dank der Außenlinie nicht nur einfacher unterbrochen werden, sondern es mehrere Absicherungen gibt.

So kann das defensive Mittelfeld schon im Vorhinein verschieben und die Lücken zustellen, was Konter einfach unterbindet. Selbst wenn der Ball nur ins Aus geklärt wird, dann kann sich immerhin die Mannschaft wieder formieren und der Angreifer sich erneut in die Defensivformation eingliedern. Außerdem wird dieser Effekt durch die Viererkette verstärkt. Wenn mit defensiven Außenverteidigern agiert wird, so steht ohnehin eine dichte Abwehrreihe dahinter. Bei offensiv helfenden Abwehrspielern können die verbliebenen Flügel einrücken und dieses Loch im Zuge der Raumdeckung füllen.

Barcelonas Alves-Trick: Formationsverschiebungen

Perfekt gesehen wurde diese Spielweise beim Duell Portugals gegen Tschechien. Es schob nur der ballnahe Außenverteidiger nach vorne und hinterließ dann logischerweise eine Lücke. Indem die verbliebenen Spieler ballseitig verschoben, nahmen sie Zwischenpositionen ein und füllten dieses Loch aus. Pepé ging dann beispielsweise in die halbrechte Position einer Dreierkette, während Coentrao auf der gegenüberliegenden Seite einrückte und halblinks auftrat. Dazwischen spielte Alves dann kurzzeitig als nomineller Libero, damit Pereira von Defensivaufgaben befreit nach vorne gedrückt wurde.

Auch hier profitierten die Teams vom passiven Abwehrpressing. Diese Verteidigungsart macht nämlich das Abdrängen leichter und verschiebt die Konterangriffe des Gegners in ungefährliche Zonen. Außerdem muss von den Verteidigern weniger gegrätscht werden, was sie defensiv sicherer macht. Zwar überlässt das dem Gegner mehr Raum, aber er kann nie von den Räumen einer fehlgeschlagenen Grätsche profitieren. Rutscht man daneben, ist der Geschwindigkeitsvorteil des Gegners nicht mehr einzuholen und die eigene Mannschaft steuert unweigerlich in eine Unterzahlsituation. Bei der technischen Qualität auf höchstem Niveau sollte das Gros der Mannschaften fähig sein, solche Angriffe dementsprechend zu Ende zu spielen. Die Frage ist auch, was Mannschaften nach Balleroberung – oder auch beim Spielaufbau – dann mit ihren drei Spielern machen. Oftmals sind die Passwege nach vorne zugesperrt, da der Ball mit dem Rücken zum eigenen Mittelfeld erobert wird. Daraus entstehen Probleme, die dank der modernen Torhüter gelöst werden können.

Sichere Notlösung und kreative Option – die Torwartkette

Da sie meist den Gegner im Rücken und keinen Mitspieler vor sich haben, ist der Querpass die einzig mögliche Option. Falls der Gegner jedoch seine Aufrückbewegung des vorherigen Konterspiels nicht abbricht, können solche Pässe unter Umständen abgefangen werden. Daraus würde eine neuerliche Kontersituation entstehen, was jedoch nicht nötig wäre: ein Pass zum Torhüter, dem einzigen Spieler im freien gesamten Sichtfeld, ist im Normalfall ohne Probleme möglich. Viele Mannschaften nutzen dies, unter anderem natürlich die Deutschen mit ihrem Antizipationstorhüter Manuel Neuer. Der Bayern-Star kann sogar schwierige Bälle verarbeiten und gute Pässe in der Spieleröffnung spielen, weswegen er auch im Aufbauspiel öfters den Ball bekommt.

Im Gegensatz zu früher ist es nämlich kein Problem, dem Torwart den Ball zu passen. Seit der Einführung der Rückpassregel im Jahr 1992 hat sich der Idealtypus des mitspielenden Torwarts immer stärker in den Vordergrund gerückt. Die Torwartschule hat sich beispielsweise dank Frans Hoek klar verändert und es kommen immer mehr Torhüter ans Tageslicht, die in der Jugend im Feld spielten und heute noch viele Übungen im Mannschafstraining mitmachen. Dadurch werden sie nicht nur wie Neuer im Sinne der Ballbehauptung oder als Konsequenz einer Ballrückgewinnung eingesetzt, sondern zu Teilen gar als dritte Spielgestalter zu den modernen Innenverteidigern instrumentalisiert. Besonders auffällig war dies bei Dänemark, wo Andersen mit Kjaer und Agger im Aufbauspiel beinahe eine Dreierkette zu bilden schien. Er spielte pro Partie nur 3 Pässe weniger als Bendtner und nur sieben weniger als seine beiden Außenverteidiger. Im Vergleich mit Neuer konnte er sogar acht Pässe mehr als der deutsche Nationalkeeper anbringen. Das half den Dänen mit Pressing umzugehen und den vermeintlich größeren Mannschaften eine ihrer Hauptstrategien zu nehmen.

Dieser Aspekt lag bislang nicht im medialen Fokus. Stattdessen wurde berichtet, dass diese Europameisterschaft die der Kopfballtore ist. Hier wird jedoch etwas die Ursache übersehen. Die Mannschaften greifen weniger schnell an, vertuen damit viele quantitative Torchancen und hinzu kommen die verbesserte Defensivleistung sowie die etwas ängstliche Spielauffassung bei manchen Teams. Sie konzentrieren sich dann auf eine andere Spielweise, was letztlich in den Kopfballtoren mündet.

Ein letzter Punkt: der Fokus auf Standards und die Konsequenz der Halbfeldflanke

Abermals kommt der Punkt der geringen Trainingszeit ins Spiel. Verschiedenste Spielzüge unter Bedrängnis in verschiedensten Situationen bei wechselndem Gegner und eigenem Spielermaterial perfekt auszuspielen, das benötigt lange Übungszeit. Standards hingegen nicht. Es können mehrere Varianten einstudiert werden, was letztlich für Abwechslung sorgt. Bei einem so kurzen Turnier wie der Europameisterschaft, welche ohnehin nach drei Spielen für die Hälfte zu Ende ist, dürfte es auch schwer sein, die Muster zu erkennen. Der Gegner kann sich nur schwer darauf einstellen und ist überrascht, was bei längerem Ligabetrieb zum Beispiel fast unmöglich und in gewisser Weise sogar Zeitverschwendung wäre. Hier wird lieber systematisch an einer langfristigen Option gearbeitet, darum wird oftmals ungerne Zeit an trockene Standardübungen verschwendet.

Das sorgt auf Nationalmannschaftsebene für eine höhere Zahl an Toren nach ruhenden Bällen und klarerweise auch nach Kopfballtoren. Durch die fehlenden Angriffsmechanismen greifen viele Teams auch aus dem Spiel heraus auf einfachste Varianten zurück, die Kopfballtore protegieren: die langen Bälle und Halbfeldflanken. Insbesondere Mannschaften wie England mit einem kopfballstarken Zielspieler wie Carroll in der zweiten Partie versuchen bereits aus dem tiefen Mittelfeld vor den Strafraum zu kommen. Diese Mittelfeldüberbrückung wird bei fehlenden Kreativspielern in der Zentrale noch stärker provoziert und aufgrund der Flügellastigkeit vieler Mannschaften verstärkt sich der Effekt von hohen Hereingaben noch. Diese kleinen (Un-)Auffälligkeiten sorgen letztlich für die etwas erhöhte Zahl an Kopfballtoren bei diesem Turnier.

Rene Maric, abseits.at

Rene Maric

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