In dieser mehrteiligen Serie wollen wir euch die gewieftesten Trainer der Fußballgeschichte und deren taktische Entwicklungen vorstellen. Während andere Trainer vielleicht mehr Erfolge feiern... Taktische Revolutionen (1) – Chapman und das „W-M-System“

In dieser mehrteiligen Serie wollen wir euch die gewieftesten Trainer der Fußballgeschichte und deren taktische Entwicklungen vorstellen. Während andere Trainer vielleicht mehr Erfolge feiern konnten, können diese von sich behaupten das Spiel mit ihren Ideen nachhaltig geprägt zu haben. Um zu verstehen, wie es zu den heute gängigen Systemen, wie dem  4-4-2 oder dem 4-2-3-1 kam, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit.

Eine neue Regel verändert das Spiel

Es war wohl die einschneidenste Regeländerung der gesamten Fußballgeschichte, als am 13. Juni 1925 die Abseitsregel entscheidend revolutioniert wurde. Während bis zu diesem Tag bei einem Passspiel insgesamt drei gegnerische Spieler zwischen Passempfänger und Tor stehen mussten, wurde dieAnzahl an Gegnern mit diesem Tag auf zwei reduziert – die Verantwortlichen wussten in dem Moment wahrscheinlich selbst noch nicht zu was für Umwälzungen der gesamten Fußballtaktik diese Entscheidung führen würde. Ursprünglich gedacht um das Fußballspiel offensiver zu gestalten, bewirkte diese Regeländerung auf Sicht genau das Gegenteil. Aber eins nach dem anderen.

Die perfekte Abseitsfalle

Anfang der 1920er Jahre wurde die Abseitsfalle in der englischen First Division beinahe perfektioniert. Im damals gängigen 2-3-5-System wurden von den Trainern nur zwei Verteidiger aufgeboten – genau richtig viele um eine beinahe unüberwindbare Abseitsfalle stellen zu können. Als Personifikation dieser Entwicklung gilt Billy McCracken, Verteidiger von Newcastle United. Während sein Verteidigerkollege einige Meter hinter ihm wartete, pflegte es McCracken mit riskanten Rauslaufmanövern seine Gegenspieler reihenweise abseits zu stellen. Natürlich funktionierte dies nicht immer, aber sollte der Gegner den Pass einmal perfekt in die Tiefe spielen, wartete McCrackens Kollege einige Meter dahinter um diesen Pass abzufangen. Um eine offensivere Spielweise mit mehr Torerfolgen zu ermöglichen, musste etwas geändert werden.

Und genau das tat die für Regeländerungen verantwortliche Organisation, das International Football Association Board (IFAB) an jenem 13. Juni 1925 in Paris. Statt drei mussten ab sofort nur mehr zwei Spieler beim Abspiel zwischen Passempfänger und Tor stehen. Und siehe da: die Regeländerung führte tatsächlich zu einer wahren Torflut. So datiert beispielsweise der vom Stürmer des FC Everton, Dixie Dean, in der Saison 1927/28 aufgestellte Torrekord von 60 Treffern aus der unmittelbaren Folgezeit dieser Regeländerung. Doch dieser unglaubliche Torreichtum sollte nicht lange währen.

Mittelmäßiger Spieler, erfolgreicher Trainer

Hier kommt Herbert Chapman ins Spiel. Im Januar 1878 in der Bergbaugemeinde Kiveton Park geboren, fand er schon bald Begeisterung für das Fußballspiel. Sein großer Durchbruch sollte ihm aber nicht während seiner Spielerkarriere, bei einer seiner vielen Stationen, die ihn von Rochdale und Grimsby über Swindon und Sheffield in die Reserve von Tottenham Hotspur führten, gelingen: Der Trainerposten war seine Bestimmung.

Im Alter von 29 Jahren begann Chapman als Spielertrainer bei Northampton Town und führte den Verein aus der Abstiegszone bis zur Meisterschaft in der Southern League. Weniger ruhmreich sollte seine nächste Trainerstation enden. Nach sieben mehr oder minder erfolgreichen Jahren, geprägt vom Ersten Weltkrieg, trennten sich Chapman und Leeds City im Jahr 1919 – nicht ohne schmutzige Nebengeräusche. Leeds City soll während Chapmans Amtszeit gegen die damals gültige Gehaltsobergrenze verstoßen haben. Die Folge: Der englische Verband, die Football Association (FA), schloss Leeds City vom Spielbetrieb aus und sperrte Chapman lebenslang.

Doch bereits zwei Jahre später, im Frühjahr 1921, wurde dieser Bann aufgehoben und Chapman heuerte bei Huddersfield Town an. Innerhalb von nur vier Jahren verwandelte er die Mannschaft, die davor bestenfalls graues Ligamittelmaß verkörperte, in ein Spitzenteam.  Ein Sieg im FA Cup und zwei Meisterschaften standen am Ende zu Buche. Chapmans größte Zeit sollte aber erst folgen. Der FC Arsenal London rief. In den nächsten neun Jahren wird Chapman mit dem Nordlondoner Klub die Welt der Fußballtaktik für immer komplett verändern.

Die Erfindung des „W-M-Systems“

Im Jahr 1925, in dem auch die neue Abseitsregel in Kraft trat, wechselte Chapman also zum FC Arsenal – und wurde dort zum ersten Trainer der Fußballgeschichte, in dem Sinn, in dem wir den Posten heute kennen. Während die Teams zuvor von Klubeigentümern oder Direktoren aufgestellt wurden, stellte Chapman als erster Coach klare taktische Überlegungen an und kam bald zu dem Schluss: „Es ist mindestens genauso wichtig, dass wir unsere Gegner daran hindern, Tore zu schießen, wie selber welche zu schießen.“ In diesem Sinne begann er das taktische System seines Teams grundlegend zu revolutionieren. Innerhalb der kommenden fünf Jahre veränderte er das vormals gängige, auf puren Angriff ausgelegte, 2-3-5-System, zu einem eher defensiv-orientierten, auf Konterfußball fokussierten 3-2-2-3-System, auch als „W-M-Formation“ bekannt. Parallel dazu entwickelte sich der FC Arsenal von einem Abstiegsaspiranten zu einem Serienmeister – der er bis nach Chapmans Tod auch blieb.

Am Weg zu dieser neuen Formation war die Stärkung der Verteidigung der erste Schritt. Wegen der neuen Anforderungen durch die eben eingeführte Abseitsregel war es unerlässlich die Abwehr zu stabilisieren. Deshalb berief Chapman seinen zentralen Mittelfeldspieler ins Abwehrzentrum, um den gegnerischen Mittelstürmer zu bewachen. Die Position des „Stoppers“ war geschaffen. Folgerichtig rückten die beiden vormaligen Verteidiger auf die neu geschaffenen Außenverteidigerposten, die für die Deckung der gegnerischen Außenstürmer verantwortlich waren. Mit dieser Dreierabwehrkette sollte es einfacher sein die gegnerischen Stürmer, trotz der neuen Abseitsregel, aufzuhalten. Durch das Zurückziehen des zentralen Mittelfeldspielers entstand in dessen eigentlich angestammter Region, im Zentrum des Feldes ein Vakuum. Deshalb beorderte Chapman zwei seiner vormals fünf Stürmer zurück in das Mittelfeld. Diese beiden offensiven Mittelffeldspieler dienten als Regisseure im heutigen Sinn – während die beiden defensiven Mittelfeldspieler, die „Läufer“, wie der Name schon sagt, ein laufintensives Spiel als Verbindungsglieder zwischen Defensive und Offensive betreiben mussten. Außerdem waren sie für die Deckung der beiden gegnerischen Halbstürmer verantwortlich. So hatte schließlich jeder Akteur einen direkten Gegenspieler – die Manndeckung war erfunden. Betrachtet man das System nun aus der Vogelperspektive, kann man eine Formation erkennen, die einem „W“ über einem „M“ ähnelt. Das „W-M-System“ war geboren.

Die Kreation des Konterspiels

Bemerkenswert ist aber nicht nur die Entwicklung der Formation selbst, die erstmals in der Geschichte des Fußballs eine Ausgewogenheit zwischen Offensive und Defensive schuf (nicht nur in der Anzahl der Spieler, sondern auch in der Spielweise), sondern auch die Kreation einer neuen Spielphilosophie: dem Konterspiel. Oftmals überließ Arsenal unter Chapman dem Gegner über lange Strecken des Spiels den Ball, nur um bei einer Balleroberung blitzschnell umzuschalten und ein Kontertor zu erzielen. Besonders wichtig für die Ausübung dieses Spielsystems waren schnelle Außenbahnspieler, die Chapman mit Cliff Bastin und Joe Hulme zur Verfügung standen. Andere treibende Kräfte dieser Mannschaft waren Mittelstürmer Jack Lambert, Regisseur Alex James und Stopper Herbie Roberts.

Obwohl das System weit defensiver ausgerichtet war, als es zu dieser Zeit Standard war, so erzielte Arsenal doch eine atemberaubende Anzahl an Toren. Alleine in der Meisterschaftssaison 1930/31 derer unglaubliche 127. Grund dafür war ein, bis dahin nie dagewesenes, blitzartiges Umschaltspiel. Die Spielidee Chapmans lag deshalb nie darin, das Spiel zu zerstören, sondern sich zurückzuziehen, um dadurch Räume zu schaffen, die nach einer Balleroberung von den schnellen Offensivspielern genutzt werden konnten. Die Ansicht, Chapmans System wäre allein auf das Zerstören ausgerichtet, ist deshalb nicht korrekt. Korrekt ist hingegen, dass viele Mannschaften in späteren Jahren die Formation nutzten, um reinen Zerstörerfußball zu spielen. Sich sozusagen nur die defensive Hälfte des Systems abschauten und die offensive – das schnelle Passspiel über wenige Stationen in die Spitze – nicht.

Erfolgstrainer und Visionär

In seiner von 1925 bis zu seinem Tod im Jahr 1934 währenden Amtszeit gelangen Chapman 1931, 1933 und 1934 insgesamt drei Meistertitel (wobei der letzte von seinem Nachfolger ins Ziel gebracht wurde, da Chapman während der Saison verstarb) und 1930 ein Sieg im FA Cup. Neben diesen rein sportlichen Erfolgen, erwies sich Chapman aber auch als Revolutionär in anderen Bereichen – wobei er seiner Zeit meist voraus war; viele seiner Ideen wurden erst lange nach seinem Tod verwirklicht. So stammt der Vorschlag, einen gesamteuropäischen Fußballwettbewerb auszutragen, beispielsweise von Chapman. Verwirklicht wurde dieses Vorhaben, mit der Einführung des Europapokals der Landesmeister 1955, aber erst rund zwanzig Jahre nach seinem Tod. Chapman gilt auch als erster Trainer der Welt, der einen richtigen Betreuerstab um sich versammelte. In seiner Zeit bei Arsenal engagierte er beispielsweise erstmals Physiotherapeuten und Masseure für seinen Trainerstab. Außerdem führte er wöchentliche taktische Besprechungen ein, um seinen Spielern auf Magnettafeln seine taktischen Ideen genau vermitteln zu können. Allen voran das „W-M-System“, sein Lebenswerk, das die Fußballtaktik für die kommenden Dekaden entscheidend prägen sollte.

Nino Duit, abseits.at

Nino Duit

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